Über den folgenden Text war ich während meiner – nun ja, ziemlich zeitaufwendigen Recherche wochenlang mit der Redaktion einer Dresdner Tageszeitung in Kontakt. Dann überrollten wichtigere gesellschaftliche Ereignisse das Thema. Na, hier ist er zum Lesen. Ich habe ein paar aktuelle Aspekte ergänzt.
Als wir letztes Jahr aus dem Sommerurlaub zurückkamen, hatte sich Dresden verändert: an jeder Straßenecke standen grüne Roller herum. Ein halbes Jahr später veröffentlichte die amerikanische Betreiberfirma Lime dann die erste Dresdner Halbjahresbilanz. Über 500.000 km hatten die Dresdner seit dem Start im Juni auf den Rollern zurückgelegt; „das entspricht etwa 1,4 mal der Entfernung der Erde zum Mond“. Eine Zahl, die mich beeindruckte, denn ich gehörte ein halbes Jahr lang zu denjenigen, die die Roller quasi vom Mond wieder zurück zur Erde brachten, die sie bei sich zu Hause an die Steckdose anschlossen und am Morgen, wenn die Dresdner Neustadt außer ein paar Flaschensammlern noch menschenleer ist, leise gähnend wieder auslieferten. Ich war ein „Juicer“ geworden, ein Auflader.
Die Sache sah nach Spaß und leicht verdientem Geld aus: vier Euro gab es anfangs pro geladenem Roller, und man konnte „juicen“, wann und soviel man wollte. Sozialleistungen bezahlt das Unternehmen natürlich nicht für die Juicer, und jeder ist seines Stundenlohnes Schmied. Belustigt sah ich mir einen hippen Werbefilm von Lime an („Auf Knopfdruck können Sie Wunder, Freude, Beziehungen entsperren. Neue Welten warten auf Sie!“), verfolgte in den folgenden Wochen kleine Reportagen über Juicer im Radio, im Fernsehen und in Tageszeitungen. Da gab es diesen Supermarkt-Filialleiter, der nachts durch die Wiener Bezirke hetzte, die Roller bündelweise gestapelt nach Hause schob und Subunternehmer einsetzte. Oder den Dresdner Studenten, der die schweren Klopper – ein E-Roller wiegt vierundzwanzig Kilo – zu sich in die Wohnung hochschleppte, pro Monat 500 Euro damit verdiente und bekannte: „Ich muss sagen, es macht ein bisschen süchtig!“
Das macht es in der Tat. E-Scooter zu laden, ihnen per Handy-App nachzuspüren und aufzulauern; abzuwägen, ob man es mit der angezeigten Restladung wohl noch schafft, bis nach Hause zu rollen; die Sammelrouten durch die Stadt zu optimieren, Vandalismusopfer an die Zentrale zu melden und nebenbei das eigene Familienleben nicht völlig gegen die Wand zu fahren, das ist wie eine lebensgroße Version des kurzweiligen Gesellschaftsspiels „Scotland Yard“, in dem man durch geschickte Spielzüge mit verschiedenen Verkehrsmitteln schneller ist als seine Mitspieler und nebenbei Geld gewinnen kann. Während meine Nachbarn also ins Stadion gingen, sich vor den Fernseher schmissen oder zum Feierabendbier um die Ecke spazierten, bin ich in den letzten Monaten grünen Rollern nachgejagt. Und hatte meist schon vor dem Frühstück meine täglichen zehntausend Schritte abgehakt.
Da ich einen Gewerbeschein habe, dauerte das Anheuern bei der Firma keine Stunde. Ich musste keinen Kurs besuchen, habe mit keinem Personaler geskypt, einfach ein Formular ausgefüllt, das wars. Ein paar Tage später kamen die ersten Ladegeräte per Post in meinem Büro im Erdgeschoss unseres Hauses an, in dem ich vorsichtshalber einen Rauchmelder installiert hatte. So fungierte der Raum als Über-Nacht-Ladestation, mit gutem-Gewissen-Greenpeace-
Hauptberuflich und ausschließlich aufs „Juicen“ zu setzen, würde ich niemals. Dafür ist der Stundenlohn zu gering, und das geschäftliche Risiko, das die Firma an ihre Auflader auslagert, zu hoch. Dann müsste man Hunderte Limes pro Nacht laden, einen Transporter mieten oder kaufen, eine Halle anmieten… Und was, dachte ich, wenn einen die Grippe oder drei Wochen Schneeregen die grünen Flitzer lahmlegt? Dann häufen sich die laufenden Kosten, man macht Schulden…? Ohne einen direkten Vorgesetzten und mit wenig Kommunikationsmöglichkeiten innerhalb dieses weltweit agierenden Startups eine unangenehme Vorstellung. Die Mitarbeiter des Supports sitzen werweißwo und waren bei meinen Anfragen kaum eine Hilfe.
Auch die von der Firma stolz verkündete Energie- und Umweltbilanz hinkt. Den Ausstoß von 139 Tonnen Kohlendioxid hätten die Dresdner durch Rollerfahren verhindert, so die Pressemeldung. Das würde bedeuten, dass die Fahrer pro gerolltem Kilometer 256 Gramm Kohlendioxid eingespart hätten, das sie ansonsten in die Umwelt gepustet hätten; das sind die Emissionswerte eines mittleren VW Phaeton. E-Roller-Spritztouren ersetzen aber meiner Beobachtung nach keine Phaeton-Fahrten. Sie sind eher ein Vergnügen für Kinogänger und Touristen als ein vernünftiges Fortbewegungsmittel von A nach B. Dafür sind die Fahrten nämlich schlicht zu teuer. Und: es ist ein saisonales Vergnügen. Im Spätherbst und Winter sinkt die Lust, sie auszuleihen. Damit sinkt auch die Nachfrage nach Juicern. Eine neue Preisdynamik, die den Ladepreis der Roller im November bis auf 3,20 Euro abgesenkt hatte, tat ihr Übriges. Ich vermute, ein Großteil der Dresdner Juicer hat Ende 2019 die Motivation verloren, weiterzumachen. Der Rest akzeptierte zähneknirschend die niedrigeren Aufladepreise – bis die Firma Mitte März alle Roller ins Depot bringen ließ. Corona. Eine kurze Mitteilung in der Juicer-App. Schluss. Aus. Das Abenteuer „Lime“ war vorerst zu Ende. Besonders für größere Subunternehmer, die Firmen gegründet, Transporter geleast oder gar gekauft hatten, ein absolutes Desaster.
Letzten Freitag hat mir die Firma nun auch regulär eine Kündigung gesendet, per E-Mail. Sie las sich wie von Google übersetzt. Mein Name fehlte in der Anrede, statt Dresden stand der Platzhalter „MARKET“ im Text. Lime ist für Anfragen momentan nicht erreichbar. Ich vermute, die meisten Support-Mitarbeiter wurden schon vor mir entlassen. Die bekamen ja Gehalt, während die Roller dieser Tage weltweit in den Depots schmoren.
In Zukunft, so hatte es zumindest der Pressesprecher Anfang 2020 angekündigt, werden professionelle Logistikdienstleister das Wiederaufladen der Roller übernehmen – so, wie es auch beim Mitbewerber Tier üblich ist, dessen Modelle in Dresden einige Wochen lang herumstanden, bis der Virus auch sie ausbremste. Diese neuen Roller haben einen Vorteil: man muss sie nicht aufwendig an eine Steckdose bringen, sondern tauscht lediglich den Akku aus. Auch Lime wird wohl zukünftig auf dieses System setzen; in Paris gingen die ersten Lime-Roller mit Austauschakkus vor der Corona-Krise in Betrieb.
Das erklärt vielleicht auch, warum meine damalige Anfrage an den Online-Support, warum man an den Rollern beim Ausliefern zu Fuß eigentlich kein Licht anschalten kann (ich war von der Polizei angehalten worden und durfte gleich mal pusten), trotz mehrfacher Nachfrage ungehört verhallte: das Juicen durch einen großen Schwarm von Freiberuflern ist ein Auslaufmodell. Wenn nur der Akku getauscht wird, kann ein kleines, festangestelltes Team mit einem Lieferwagen voll Dutzender Ersatzakkus spielend eine ganze Stadt versorgen.
So sind meine Tage als einer von Dutzenden Kulissenschiebern für unbeschwerte Fahrten mit den limettengrün-weißen Rollern nun also gezählt. Wenn es denn irgendwann wieder Konzerte in Oper und Kulturpalast gibt, werde ich wieder mit dem Fahrrad hinfahren statt mit einem E-Roller, dessen Batteriesymbol schon rot leuchtet. Und irgendwann wird das alte Jagdfieber, das einen Juicer beim Anblick eines abgestellten Rollers unweigerlich befällt, bestimmt abgeklungen sein.
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