Lieblingsfarben und Tiere

Die letzten Monate habe ich mit drei Kindern, darunter ein stiller, meist freundlicher und ansonsten stereotyper Teenager, auf der Straße verbracht. Genauer: in einem alten Kombi, der auf knapp fünfundzwanzigtausend gefahrenen Kilometern ruhig vor sich hinbrummte (da die Höchstgeschwindigkeit in Neuseeland 110 km/h beträgt und auf den meisten Highways Tempo 80 gilt). Zu hören war die meiste Zeit ein eklektischer Musik-Mix von CDs, die wir in den durchfahrenen Städtchen für ein, zwei Dollar das Stück in so genannten »Op-Shops« – ›Op‹ steht für Opportunity, also für günstige Gelegenheiten aller Art – kauften, bis sie nach und nach das Handschuhfach, die Ablagefächer zwischen den Sitzen und die Taschen der Sitzrückseiten füllten.

Quoll irgendein Reservoir über, wurden CD-Hüllen unter die Vordersitze geschoben oder in Türfächer gequetscht. Hörwünsche durften abwechselnd geäußert werden, und pro Tag arbeiteten wir uns schon mal durch sechs, sieben, acht CDs nacheinander. Als Gelegenheits-Gebrauchteinkäufer waren wir dabei vollständig abhängig vom Musikgeschmack der Einheimischen – aber glücklicherweise variieren die Vorlieben zwischen Kleinstädten und Metropolen, zwischen Nord- und Südinsel erstaunlich stark. Und in jedem Op-Shop entdeckten wir zwischen den unvermeidlichen Kassenschlagern der Neunziger und Nullerjahre, also Regalmetern der immergleichen Scheiben von Paul Potts, Nigel Kennedy (Vivaldis »Vier Jahreszeiten«), Vonda Shepard (die Barmusikerin der Fernsehserie »Ally McBeal«) oder Susan Boyle auch neue und manche kuriosen Platten.

Now somewhere in the black mining hills of Dakota
There lived a young boy named Rocky Raccoon
And one day, his woman ran off with another guy
Hit young Rocky in the eye
Rocky didn’t like that
He said, »I’m gonna get that boy«
So one day, he walked into town
Booked himself a room in the local saloon
And Rocky Raccoon checked into his room
Only to find Gideon’s Bible
Rocky had come equipped with a gun
To shoot off the legs of his rival

In ruhigeren Momenten, etwa wenn auf dem Nachhauseweg nach einer langen Tageswanderung von den Rücksitzen nur noch leises Schnarchen kam oder wenn wir spätabends an irgendeiner Baustellenampel standen und von draußen Meeresrauschen oder der exotische Gesang von Tūis, Korimakos oder einmal sogar von einem seltenen Kokako durch die offenen Fenster schwappte, fragte ich mich, wie meine Kinder diesen gesamtheitlichen »Soundtrack« von Neuseeland wohl innerlich abspeicherten.

Würde für sie Neuseeland vor allem Billy Joels »River of Dreams« sein, das »White Album« der Beatles, »Lieblingsfarben und Tiere« von Element of Crime oder Keith Jarretts »Köln Concert«? Würden die kurvigen Staubstraßen der Insel Waiheke in ihrer Erinnerung verbunden sein mit Philipp Glass‘ »Metamorphosis« und die langen, glatten Asphaltwege rund um den schneebedeckten Vulkanberg Taranaki mit Coldplay und Randy Newmans »Every Time it Rains« (während die Regentropfen auf die Frontscheibe fielen)? Das gemeinsame Musikhören hat uns irgendwie zusammengeschweißt. Es gab Gelegenheit für Textanalysen, Hintergrundgeschichten fächerten sich auf, irgendjemand las vielleicht einen erklärenden Wikipedia-Artikel vor.

Gemeinsam durchlitten wir die Sprünge der zerkratzten CDs, die Jungs übersetzten ihrer Schwester die Songtexte, radebrechten sich dann lustvoll durch »Rocky Raccoon«, durch die schlichten, wunderbar eingängigen Zeilen eines dreiunddreißigjährigen Elton John (auf »21 at 33«: »Well we’ve both ridden the wagon bit the tail off the dragon / Borne our swords like steel knights on the highway / Washing down the dirt roads, hosing off our dirty clothes / Coming to terms with the times that we couldn’t but we tried«) oder das »ABC« eines zwölfjährigen Michael Jackson, der 1970 das »Let it Be« der Beatles spielend von der Spitze der Billboardcharts verdrängte.

A B C, easy as 1 2 3,
as simple as do re mi, A B C, 1 2 3
baby you and me girl

Come on and love me just a little bit
I’m gonna teach you how to sing it out
come on, come on, come on
let me show you what it’s all about
reading, writing, arithmetic
are the branches of the learning tree
but without the roots of love everyday girl

Natürlich spülte uns der Zufall manchmal auch alte Bekannte an. Im kleinen Rotkreuz-Shop von Oneroa zog ich die CD »Geistliche Gesänge von Brahms bis Barber« des Kreuzchors aus dem Regal; auf dem Cover blicken die Jungs mit Roderich Kreile vor der Canaletto-Kulisse (Frauenkirche bis Semperoper) lachend in die Kamera. Und in der alten Goldgräberstadt Dunedin stieß ich auf einen echten Schatz: Brucknersinfonien, Staatskapelle Dresden unter Karl Böhm, 1936. Mich erstaunte, wie konzentriert die Kinder diese Musik aufnahmen, und welche Lieblings-CDs sich am Ende jeweils durchsetzten. Jetzt bin ich mir zwar nicht ganz sicher, inwieweit diese heterogene Kost von Johann Sebastian Bach bis Cat Stevens, von Michael Praetorius bis Michael Nyman, von Robert Schumann bis Robbie Williams (»I wanna be like you-hou-hou«) dem in Deutschland verpassten Englisch- und Musikunterricht auch nur teilweise nahekam.

Aber ich rede mir ein, dass dieser lustvolle Crashkurs quer durch den Gemüsegarten, sensorisch verknüpft mit vorbeiziehenden Landschaftsbildern von hellblauen Kraterseen, Palmen bei Sonnenuntergang (zu Stéphane Grappelli) oder salziger Seeluft jedenfalls nicht geschadet haben kann, sondern einen guten Grundstock gelegt hat für eine alle musikalischen Genregrenzen überfliegende, vorurteilslose Neugier, in musikpädagogischen Fachkreisen »Offenohrigkeit« genannt. Nichts ist vergnüglicher, als eine Fünfjährige lauthals im Duett mit Doris Day, Rufus Wainwright oder Rosemary Clooney (»Mambo Italiano«) singen zu hören! Trotzdem, die Doppel-CD mit dem inzwischen gefährlich unkorrekten Titel »Music to Watch Girls By« haben wir schweren Herzens im Auto zurückgelassen, auf dass sie der nächste Fahrer finde und irgendwann vielleicht ausgelassen mitsingt.

Meine Lieblingsfarbe ist eigentlich grün,
aber manchmal blau, und gestern war es rot,
das war auch ganz schön.

Die Emails und die Kurznachrichten
kannst Du zusammen mit den Excel- und Word-Dokumenten dahin tun,
wo die Sonne auch an warmen Tagen niemals scheint und wo auch
schon die Meetings und die Skype-Kontakte ruh’n

Denk an Lieblingsfarben und Tiere,
Dosenravioli und Buch,
und einen Bildschirm mit Goldfisch,
das ist für heute genug!

(erschienen im Frauenkirchen-Magazin 3/2024)