2012 begleitete ich im Auftrag der Zeitschrift „das Orchester“ die Mozart-Aufnahmen von Teodor Currentzis und MusicAeterna in Perm. Was ich damals vor Ort erlebte, unterschied sich fundamental vom Orchesteralltag in Deutschland. Über alle Eindrücke, die ich aus Perm mitnahm, strahlte Currentzis‘ Aura als Dirigent, als Zauberer, der seinen Musikern das Letzte abverlangte, aber auch selbst absolut für die Musik zu leben schien. Aus aktuellem Anlass hier eine gekürzte Textversion meines damaligen Artikels.
Zwanzig Zugstunden östlich von Moskau liegt Perm. Die Stadt am Rand Europas hat in den letzten Jahren einen kometenhaften Aufstieg von Kunst und Kultur erlebt. Ob es der Dirigent Teodor Currentzis schaffen wird, den einzigartigen Geist des von ihm gegründeten Ensembles „MusicAeterna“ über die drohende kulturpolitische Eiszeit zu retten?
„Vom Gulag zur Avantgarde“, titelte der SPIEGEL vor drei Jahren, und berichtete aus der östlichsten Millionenstadt Europas, die einem ganzen Erdzeitalter ihren Namen gab: Perm. Unter dem internetaffinen, kulturverrückten und europhilen Gouverneur Oleg Tschirkunow war die ehemalige Militärhochburg über Nacht zu einem kulturellen Hotspot geworden. In bröckelnden Sowjetbauten nisteten sich Kunstprojekte ein, kleine Theater- und Film-Festivals sprossen aus dem Boden. Plötzlich fand sich die namhafte Ballett-Tradition der Stadt – während des „Großen Vaterländischen Krieges“ war das Ballett des Mariinski-Theaters nach Perm ausgelagert worden – in einem schwindelerregenden Reigen von Kulturprojekten aller Art wieder. Der umtriebige Moskauer Journalist, Kunstsammler und Politikberater Marat Gelman zog 2009 nach Perm und wurde Direktor eines neuen Museums für zeitgenössische Kunst, des PERMM, das bald mit spektakulären Ausstellungsprojekten international ausstrahlte. Und: ein neues, 1100 Plätze fassendes Auditorium in einem großzügigen Anbau an das alte Opern- und Balletttheater war Tschirkunows Vision. 2010 gewann das Londoner Architektenbüro David Chipperfield die Ausschreibung.
Tschirkunows Meisterstück jedoch war Anfang 2011 die Ernennung des jungen griechischen Dirigenten Teodor Currentzis zum Künstlerischen Direktor des Opern- und Balletttheaters. Currentzis, der 2004 mit zweiunddreißig Jahren Chefdirigent am größten Opernhaus Sibiriens geworden war, bekam eine großzügige Förderung in Aussicht gestellt. Das von ihm in Nowosibirsk gegründete „MusicAeterna Ensemble“ sollte seine neue Heimat in Perm finden. Currentzis erhielt die Zusage, sein Orchester von 35 auf 80 Weltklasse-Musiker aufstocken zu können. Aus der kleinen, auf historische Aufführungspraxis spezialisierten Mannschaft wird dadurch gegenwärtig ein Ensemble, das das große sinfonische Repertoire ebenso beherrscht wie ein weites Opernrepertoire.
Currentzis’ Ruf nach Perm verbreitete sich rasch. Renommierte Musiker aus St. Petersburg, aus Moskau, aus einigen europäischen Ländern spielten für „MusicAeterna“ vor; die besten wurden nach Perm eingeladen. „Die Verträge in Perm sind wunderbar,“ sagt eine Musikerin, „ein Festgehalt, für überschaubare Projekte, die einem auch Zeit für Soloprojekte und anderes lassen. Als ich dann noch hörte, dass Andrey Baranov, der 1. Preisträger des Königin-Elisabeth-Wettbewerbs 2012, hier Konzertmeister sei, dachte ich: wow! Und sagte zu.“ Allmählich sickerte durch: hier in Perm war etwas richtig Spannendes am Werden. Und die erste Anerkennung: der neue Geschäftsführer des Hauses, Marc de Mauny, konnte das Label SONY gewinnen, Mozarts da-Ponte-Opern in Perm für CD aufzuzeichnen.
Tatsächlich hat das Permer Currentzis-Universum etwas Unglaubliches, etwas Märchenhaftes. Der Dirigent hat sich sein Büro im Opernhaus im Geiste Sergei Djagilews einrichten lassen; zum abendlichen Interview empfängt er dort bei Kerzenlicht, von Räucherstäbchenduft umflort, der Tisch biegt sich unter hochgetürmten Sandwich-Tellern und Getränken. „Was wir hier tun, hat mit der westlichen Musikwelt nichts zu tun,“ sagt Currentzis still, freundlich, er lächelt die ganze Zeit. „Ein Orchester wie »MusicAeterna« wäre in Deutschland einfach unmöglich. Mit meinen Musikern lebe ich einen Traum. Niemandem käme es zum Beispiel in den Sinn, nach der Uhr zu proben. Für den »Figaro« haben wir teilweise zehn, zwölf Stunden am Stück aufgenommen…“ Wie man so etwas durchhalten kann, davon schwant mir nach einer besuchten Vorstellung: die Beziehung zwischen Dirigent und Musikern hat etwas Hypnotisches. Jeder gibt sein Bestes, es geht nicht um eine Vorstellung, ein Konzert – es geht darum, wie man leben will, wofür man lebt. Während in Donaueschingen die Proben zum Eröffnungskonzert laufen – Currentzis hat hier wenige Tage vorher „wegen Überlastung“ abgesagt – musizieren an diesem Abend unter seiner Leitung Pianisten, Schlagzeuger, Chor und Solisten mit leuchtenden Augen zu zwei Ballett-Einaktern: vor der Pause die Uraufführung eines Auftragswerks des Hauses an den Komponisten Wladimir Nikolayev, das im Frühling bereits einmal konzertant erklangen war; danach Igor Strawinskis „Les Noces“ mit der legendären Choreographie Jiří Kyliáns aus dem Jahr 1982.
Die kreative Anspannung löst sich später, nachdem sich die Türen des Opernhauses hinter den Besuchern geschlossen haben, bei einer inoffiziellen Feier im Nebenfoyer. Alle zwei, drei Wochen veranstaltet Currentzis ein solches Nachtkonzert: eine Ballerina tanzt da hinreißend den „Schwan“ aus Camille Saint-Saëns’ „Karneval“, jemand rezitiert glutvoll Gedichte von Marina Zwetajewa, Kammermusikensembles finden sich, man lacht, trinkt, genießt und spielt sich gegenseitig Musik vor. Die Kinder des Generaldirektors flitzen im Matrosenanzug herum, bis sie ermüdet in den Schoß der Mamá sinken; und leise singt ein Barde zur Gitarre. Hier, denkt man plötzlich, schlägt doch das kulturelle Herz von Perm, hier findet man zusammen, hier gilt’s der Kunst. Berauscht ist man von so einem Abend, beglückt, im Innersten verändert.
Hier könnte der Bericht vom Ausflug in die Parallelwelt Perm eigentlich glücklich schließen. Wäre da nicht eine Überraschung, die auch viele neue Musiker von „MusicAeterna“ erst einmal auf dem falschen Fuß erwischte. Chefdirigent am Opern- und Balletttheater Perm ist nämlich nicht Currentzis, sondern nach wie vor der verdiente Volkskünstler Russlands und Volkskünstler der Republik Baschkortostan, Valeri I. Platonow. Platonow leitet ein nach wie vor parallel zu „MusicAeterna“ festangestelltes Hausorchester, das einen eigenen Konzertplan hat und während der meisten Repertoirevorstellungen im Graben sitzt! Peng. Tatsächlich hat Perms Opernhaus also zwei Herzen: eines schlägt schwach, aber verlässlich; das zweite kraftvoll und frisch, aber noch recht unrhythmisch.
Die Anstrengung, die natürlichen Abstoßungskräfte von Perm zu überwinden, muss enorm sein. Platonow kennt das Haus seit den achtziger Jahren und gibt sich Mühe, die Kluft, die zwischen den Künstlern am Haus herrscht, nicht zu groß werden zu lassen. Trotzdem: „Die Gehälter von »MusicAeterna« und meinem Orchester sind sehr verschieden; das ist hochproblematisch.“ Currentzis’ Ensemble habe das künstlerische Level sehr hoch gesetzt; nun sei es „absolut essentiell, die Qualität der älteren Kompanie zu erhöhen.“
Marc de Mauny selbst spricht von »MusicAeterna« als „einem Theater in einem Theater“; man habe schwierige Integrationsprozesse hinter sich, und eine Menge getan, um zu demonstrieren, dass alle Mitarbeiter eingeladen seien, die neue Ausrichtung des Hauses mitzugehen. „Am Anfang war es schwer. Aber für uns alle, das sollten wir begreifen, ist es eine privilegierte Situation.“ Mit 12,5 Millionen Euro Jahresbudget sei das Haus kaum in der Lage, internationale Gaststars einzuladen. Aber: Currentzis habe seine Kritiker und auch das Publikum in seiner ersten Spielzeit überzeugt. „Er spricht ein neues, ein jüngeres Publikum an. Eine der Freuden des russischen Theaters ist, dass das Publikum nicht snobistisch ist, sondern in die Oper kommt, um Oper zu erleben.“
Wenn es denn könnte! Tatjana Demeneva, die Direktorin der Landesmusikschule Perm, verdient 10.000 Rubel im Monat; davon könnte sie drei gute Eintrittskarten zu einem Currentzis-Konzert kaufen. „Warum bekommen die Ausländer so viel Geld von der Regierung?,“ empört sich eine der Lehrerinnen ihres Colleges im Gespräch. „MusicAeterna“, scheint es, wird von vielen Einwohnern der Stadt wahrgenommen wie Besucher von einem anderen Planeten. Sie kamen in bester Absicht – nun aber weht ihnen eiskalter sibirischer Wind entgegen. Im Frühjahr 2012 hat Dmitri Medwedew – als eine seiner letzten Amtshandlungen als russischer Präsident – Gouverneur Tschirkunow von seinem Posten entbunden. Dessen Nachfolger Viktor Bassargin hat die Bevölkerung über die zukünftige Verteilung des vorhandenen Budgets abstimmen lassen; die wichtigsten Projekte sind nun, so haben es die Permer entschieden, die Renovierung des Flughafens und die Errichtung eines Güterbahnhofs.
So äußert sich der Minister für Kultur des Permer Kreises, Alexander Protasevich, eher ernüchternd über die Zukunft der in den letzten Jahren angeschobenen Kulturprojekte. „Der neue Gouverneur hat den Wunsch, einige Entscheidungen zu ändern und zu korrigieren, welche die kulturelle Entwicklung Perms in den letzten Jahren betrifft. Meine Kollegen verbinden diese Situation mit dem Fakt, dass auch der Rest der Stadt vorankommen muss.“ In den letzten Jahren, formuliert Protasevich ungewöhnlich scharf, seien die kulturellen Umwälzungsprozesse so heftig gewesen, dass nicht alle Schritt halten konnten. „Dies ist eine Stadt und eine Region, die nach klassischen kulturellen Mustern lebt. Als diese Leute aus dem Ausland kamen, brachten sie eine neue Ideologie mit. Nicht alle Einwohner reagierten auf ihre riesigen finanziellen Ansprüche in positiver Weise. Der neue Gouverneur versteht die Situation und versucht, die richtigen Schritte zu gehen.“ Currentzis’ Vertrag, so der Minister, laufe bis 2013. „Ich hoffe, dass in dieser Zeit nichts passiert, das uns zwingt, die Situation zu überdenken. Das Chipperfield-Projekt wird gegenwärtig analysiert. Es gibt eine realistische Möglichkeit, es fortzuführen, aber dafür muss es ökonomisiert werden.“ Im Komsomolzen-Park deutet bisher nichts darauf hin, dass hier einmal ein neuer Saal gebaut werden soll. Der Kunstsammler Marat Gelman wurde im März 2012 vom Gouverneur des Kreises Krasnodar eingeladen, dort ein neues Museum für moderne Kunst aufzubauen; in Perm ist er nur noch selten anzutreffen.
Das „große Sterben“ markiert das Ende des Zeitalters Perm. Siebzig Prozent aller Landtiere und fast sämtliche Meerestiere starben damals aus; Wissenschaftler bezeichnen die Zeit als mit Abstand schlimmste Krise der Artenvielfalt. Im nachfolgenden Zeitalter, der Trias, regierten die Dinosaurier.